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November 16, 2024

Wandern durchs böhmische Mittelgebirge: Von Ústí nach Litoměřice

Panoramablicke zum Staunen, Dörfer mit Apfelbaumalleen und eine wunderschöne Stadt mitten im Garten Böhmens: Auf dieser Tour erlebst du den Norden Tschechiens von der besten Seite!

Blick von einem hohen Berg, vom Vysoký Ostrý, ins Tal der Elbe in Böhmen.
Das ist doch mal eine Aussicht, oder? Vom Vysoký Ostrý bietet sich aus 600 Metern Höhe ein einmaliger Blick aufs Elbtal.

Zwei Tage waren wir die etwa 30 Kilometer von Ústí nach Litoměřice unterwegs, um ganz entspannt Landschaft und Leute kennenzulernen. Je nach Gusto kannst du die Route natürlich frei variieren. Wir haben auch ein paar Berge liegengelassen, die sich sicher lohnen ...

Falls du diese Tour auch wandern oder als Vorlage für eigene Strecken nutzen möchtest: Mit Klick auf diesen Link kommst du zu einer Karte mit Routenverlauf auf komoot.com!

Start unsrer Tour: Ústí nád Labem

Wenn du die brutalistisch-sozialistische Architektur der 1980er magst, werden dir hier die Augen übergehen. Im Zentrum der Stadt wurde geklotzt und nicht gekleckert: Schau mal in der Dlouhá 1514/7, an der Ecke zur Pivovarská unweit vom Hauptbahnhof das Gebäude des Regionalbüros der Region Usti an. Vier ineinander verschlungene riesige Lüftungsrohre neben einem – ja, was ist das? – badewannenähnlichen Teil.

Früher saß hier die örtliche Kommunistische Partei, hinter dem Bauwerk stecken die Architekten Míťa Hejduk und Rudolf Bergr. In den 1980er Jahren wurden einige Häuser drumherum abgerissen, damit der Prachtbau von überall zu sehen ist.

Ein großes Gebäude aus Beton, gebaut in den 1980er Jahren in Ústí nad Labem.
Einst berieten hier die tschechischen Kommunisten über wichtige Angelegenheiten. Heute ist es das Regionalbüro der Region Ústi. (Foto: Art Jarka – Vlastní dílo, CC BY-SA 3.0)

Auch das große Glasfries „Hommage an die Arbeit“ von Miroslav Houra aus dem Jahr 1985 (Mírové náměstí  3129) darfst du nicht verpassen! Es soll das größte Mosaik seiner Art in Europa sein: 450 Quadratmeter misst es. In einem Interview erzählte Houra, dass ihn die mexikanische Kunst dazu inspiriert habe. Manche Bewohner von Ústí nennen es spöttisch die „Himmelfahrt der Arbeiterklasse“. 20 Glasbläser fertigten das Mosaik an, und fünf Monate dauerte es, die Einzelteile aufzubringen.

Auf Ústís Ausgehmeile

Zurück zum heutigen Leben: Bei unsrem Besuch brummt die abendliche Stadt. Rund ums Kulturhaus (Dům kultury) schwerer Parfümduft und Grüppchen gut gekleideter, teils etwas aufgeregter junger Leute: Tanzstundenball! Im Foyer des Kulturzentrums dezenter Sixties-Chic mit Kronleuchterlampen und holzvertäfelter Garderobe. Auf dem ausgehängten Programm viele Veranstaltungen - sogar die Vondráčková kommt!

Rund um das Kulturzentrum in der Velká Hradební 33 laden mehrere Lokale zum Essen ein. Im "Srdcovka" hängen Kronleuchter aus Bierhumpen: Sieht toll aus, aber ist die Hölle wenn man es reinigen muss, verrät uns ein Kellner. Hier auf dem Boulevard sitzen die Älteren, trinken ihr Bier und schauen rüber zur Jugend vorm Kulturzentrum. Die Ausgehmeile wirkt busy, aber überschaubar. Ústí, du bist uns sympathisch!

Später, als wir noch Appetit auf ein Bier haben, finden wir in der Horova Nummer 6 die etwas versteckt gelegene „Ústecká pivotéka“. Ein uriges Lokal mit kleinem, teils überdachten Garten, welches Craft Beer-Sorten ausschenkt, etwa Pale Ale von "Kocour" aus Varnsdorf, das leckere "Philipp" von "Ossegg" oder ein Single Hop aus Kladno. Schilder am Tresen kündigen für das Wochenende ein „Tap Takeover“ an. Für eine kurze Zeit belegt eine andere Brauerei die Zapfhähne und schenkt da ihr Gebrautes aus. Prima Gelegenheit, um neue Biersorten kennenzulernen!


Was du in Ústí noch sehen solltest

Die markante Mariánský-Brücke über die Elbe! Für den Blick aufs Elbtal und die Berge rund um die Stadt lohnt die Zwei-Minuten-Fahrt mit der Seilbahn vom Einkaufszentrum Forum (Bílinská 3490) hinüber auf den Berg zum Lokal Větruše.

Und vor allem eines ist interessant: Die Ausstellung „Unsere Deutschen“ im Stadtmuseum (Masarykova 1000/3). Die wohl umfangreichste Schau über die deutsche Minderheit im tschechischen Teil des früheren k.u.k-Reiches und in der Zeit danach. Auch was nach Ende des Zweiten Weltkriegs passierte - der verordnete Exodus der meisten Sudetendeutschen - ist Thema. Die sehr abwechslungsreiche Ausstellung zeigt, dass sich auch das offizielle Tschechien mittlerweile diesem Kapitel seiner Geschichte stellt.


Hinauf zur Burg Schreckenstein

Von Ústís Zentrum aus wandern wir am nächsten Tag zuerst über die Elbe-Staustufe zur Burg Střekov (Schreckenstein). Die Masaryk-Schleuse ist erbaut worden, um die Schiffbarkeit der Elbe anzusichern. In den Schleusenkammern kannst du dich fast überall umschauen. Kommst du wie wir über die Prazská dahin, führt ein Gittertor hinein. Radfahrer gelangen hier ebenfalls auf die andere Elbseite.

Die Anlage der Elbe-Staustufe bei Ústí nad Labem.
Die Masaryk-Schleuse wurde von 1924 bis 1936 errichtet und ist noch immer eine der größten Schleusen Tschechiens.

Zur Burg anschließend ist es etwas steil. Aber es lohnt – schon allein für die Sicht übers Elbtal! Auch Caspar David Friedrich und Richard Wagner haben den Blick vom Schreckenstein genossen.

Die Burg wirkt aus der Nähe noch majestätischer als sie von unten ausschaut. In den Sälen viele Ausführungen zur Geschichte - und ein Raum zeigt auch Reprints vieler Gemälde mit der Burg. Ja, es gibt weit mehr als nur die berühmte „Überfahrt am Schreckenstein“, in der Ludwig Richter 1837 die Landschaft in romantische Abendstimmung taucht.

Blick von der Burg Schreckenstein hinab ins Tal der Elbe bei Ústí nad Labem.
Schon Wagner könnte von hier auf die Elbe geblickt haben: Auf der Burg Střekov wurde er bei einem Besuch im Jahr 1842 zur Oper "Tannhäuser" inspiriert.

Nach einem würzig-kühlen „Lobkowicz“ auf der Burgterrasse brechen wir wieder auf. Nicht weit weg wartet schon die nächste wunderbare Aussicht: Vom Vysoký Ostrý blicken wir aus fast 600 Metern Höhe auf die Elbe, die sich malerisch durchs Tal windet – und dazu noch auf ein beeindruckendes Höhenpanorama! Böhmisches Mittelgebirge, Erzgebirge, Studenec, Děčínský Sněžník – der halbe Norden Tschechiens scheint einem hier zu Füßen zu liegen!

Über gut ausgeschilderte Wege, immer mal wieder mit Steigungen, geht's zu Aussicht Nummer drei an diesem Tag: Die  "Lucemburkův kopec"(Luxemburger Höhe). Hier thront seit 2020 ein hölzerner Aussichtsturm, der Richtung Norden und Osten einen schönen Blick bietet. Tschechiens unzählige Aussichtstürme sind ja eh ein Kapitel für sich. Ein weiterer wartet später noch auf dem Berg Varhošt'.

Čeřeniště - Dorfidylle im Tal

Gegen Abend beziehen wir Quartier: Bei Radek in der urigen Hobit-Pension in Čeřeniště. Unser Gastgeber ist Hobbymusiker, Englischlehrer und zugezogen. Doch inzwischen kennt er das winzige Dorf, das frühere Tschersing, recht gut. Es teilte nach 1945 das Schicksal vieler Orte der Gegend: Als die sudetendeutschen Bewohner raus mussten, blieben viele Häuser leer, wie Radek erzählt. In den 1960ern entdeckten dann die Prager, dass man in der Landluft prima die Wochenenden verbringen kann und sicherten sich Grundstücke.

Eine kleine rosafarbene Dorfkirche an einem Hügel in Čeřeniště in Böhmen.
Idyllisch liegt die Mariä-Hilf-Kirche an einem kleinen Hügel in Čeřeniště in der Morgensonne.

Auch heute hat Čeřeniště immer noch Zuzug. Der Idylle tut das offenbar keinen Abbruch. Als wir am Morgen weiterwandern, lässt sich die Mariä-Hilf-Kirche still von der Sonne bescheinen. Irgendwo knattert ein Rasenmäher, und von einem Grundstück mit Haus und riesigem Garten weht der Geruch nach frisch Geräuchertem herüber. Eine Allee, gesäumt mit knorrigen Apfelbäumen, leitet uns aus dem Tal. Nicht ein Auto begegnet uns. Wir sind allein auf der Straße.

Eine kleine schmale Dorfstraße in Böhmen, links gesäumt mit Apfelbäumen.
Eine schmale Straße mit dem Ortsschild von Čeřeniště in Böhmen.

Die heutige Etappe läuft um einiges weniger steil als die gestrige. Nur der Anstieg auf den Berg Varhošt' verlangt etwas Kraft.

Auf den letzten zehn Kilometern angenehme Wege, Wald wechselt sich mit Lichtungen und Wiesen ab. Von Skalice aus folgen wir einem kleinen Flüßchen, Pokratický potok, bis die ersten, sehr gepflegten Plattenbauviertel von Litoměřice auftauchen.

Ankommen in Litoměřice

Ich versuche jetzt, ganz neutral zu bleiben: Aber in diese Stadt verliebt man sich in Handumdrehen! Der Markt mit seinen farbenfrohen Gotik- und Rennaissance-Fassaden, die gemütlichen und lebendigen Straßen und Gäßchen, die alte Stadtbefestigung, die St-Stephanskathedrale: Hinter jeder Ecke überrascht eine neue Szenerie, zeigt die Stadt wieder eine etwas andere Seite. Dafür, dass (nur) etwa 20.000 Einwohner hier leben, hat der Ort sehr viel zu bieten. Litoměřice hat gerne Besucher zu Gast, so unser Eindruck - und bietet viele Cafés, Galerien, Museen und Plätze zum Erkunden.

Die Tschechen nennen die klimatisch begünstigte Ecke rund um den Ort, wo auch die Ohře (Eger) in die Elbe mündet, auch den "Garten Böhmens". Die Lage an den beiden Flüssen bescherte dem alten Leitmeritz zudem den Status als Handels- und Verwaltungszentrum.

Und wo gehandelt und verwaltet wird, wird gern auch gekeltert: Falls du schonmal tschechischen Wein probiert hast, ist dir vielleicht der Name Velké Žernoseky ein Begriff. Das wohl bekannteste böhmische Weingut liegt nicht weit entfernt von Litoměřice. Und wer hat damit angefangen? Zisterzienser-Mönche aus dem sächsischen Kloster Altzella!

Rund um den Markt ist am Abend auch Weinfest, wo wir bei einem lokalen Winzer (20.000 Flaschen Ausbeute pro Jahr) lecker-leichten Rotwein sowie "Burčák" probieren, den Federweißen. Immer wieder hören wir auch den Namen Radobýl. Ein Berg nahe Litoměřice, wo ebenfalls Wein angebaut wird. Ins Deutsche übertragen heißt der Hügel übrigens - Radebeule.

Auch Bier können sie hier: In einer alten Fabrikhalle braut und schenkt die lokale Craft-Beer-Brauerei Pivovar Litomerice aus. Sie hat ihre Lager- und obergärigen Sorten nach markanten Stadthäusern benannt: "Kalich" - das Kelchhaus am Markt; "Baba" - das Gefängnis, "Kat" - das Henkershaus; und "Orel" - der "Adler", er steht für das Sgrafitto-Haus "Am schwarzen Adler" ("Černý orel"), ebenfalls am Markt. Man kann Stadtgeschichte hier also trinkend kennenlernen.

Zum Weinfest zapft der junge Brauereichef sogar ein zusätzliches Bier, ein Red Ale namens "Hung man". Süffig und ohne den etwas strengen Nachgeschmack, den viele Red Ales oft haben. Nach Deutschland liefere man bisher noch nicht, erzählt uns der Chef. Doch wer bestelle, bekomme sein Bier per Paket geschickt.

Im Schiff einer Kirche hängt eine Stoffbahn von der Decke bis zum Boden herunter.
In der Maria-Verkündigungs-Kirche hatte grad die Ausstellung "Depositum" von Patrik Hábl ihren Platz gefunden. Die zum Kunstort umfunktionierte Kirche wirkt im Inneren riesig groß. Neben dem Kirchenschiff gibt es viele weitere Räume, die allesamt zugänglich sind.

Was du auf gar keinen Fall verpassen solltest, ist die Maria-Verkündigungs-Kirche (Kostel Zvěstování Panny Marie) in der Jezuitská. Hier zeigen regelmäßig auch sehr bekannte Künstler ihre Objekte und ihr Schaffen. Das kleine Litoměřice bietet hier oft erstaunlich unkonventionelle Kunst. Zu unserer Zeit hatte der tschechische Maler Patrik Hábl riesige Tuchbahnen im Kirchenschiff aufgespannt. Die Stoffe ändern den gesamten Raumeindruck!

Unser Wanderausflug geht zu Ende, die Minuten bis zur Abfahrt schrumpfen. Wir beschließen unsere Tour im Café des Hável-Parks, mit einem lokalen Veltiner und einem Salat. Fazit: Das Böhmische Mittelgebirge hat sich auf unserer Wanderliste weit oben platziert, denn wir sind geflasht von den herrlichen Ausblicken und haben längst noch nicht alle Berge geschafft. Ústí lohnt sich, und wenn du nach Litoměřice kommst, nimm dir bitte mehr Zeit als wir. Diese Stadt hat's verdient - und sie wird dich begeistern.


Was du in Litoměřice ebenfalls nicht verpassen solltest

Den wohl besten Blick über die Stadt hast du vom Turm der Kathedrale St. Stephan am Domplatz (Dómské náměstí): Über Dutzende, zum Teil knorrende alte Holztreppen geht es hoch in den Glockenturm.

Das wohl charmanteste Café der Stadt ist das "Café mit Dampf", das in einem alten Bahnhof beheimatet ist (Kavárna "Káva s párou", Jarošova 165/32). Guter Kaffee und Kuchen, Tischbeine teils aus alten Schienen, alte Kaffeebehälter, draußen eine Dampflok sowie eine Gartenbahn-Anlage: Hier werden Mütter, Kinder und Väter gleichermaßen glücklich.

Es gibt auch in der Umgebung noch viel, und du bräuchtest nochmal einen Tag, z.B. für das wunderschöne
Schloss Ploskovice, das von Medici-Nachfahren erbaut wurde. Das markante Stadtmuseum von Litoměřice am Markt ist jedoch derzeit geschlossen: Es wird bis 2026 saniert - was weder bei Google Maps vermerkt war noch auf den kursierenden Flyern der Touristen-Information. Das erfahren wir nur mündlich von den Infozentrum-Frauen ...


P.S.: Sollte dir diese Touridee gefallen und du die Strecke vielleicht ebenfalls wandern: Schreib mir doch mal, wie sie dir gefallen und was du an Besonderem entdeckt hast! Dann kann dieser Blogartikel weiter geschrieben werden :-).